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„Der Staat ist für die Menschen da und nicht umgekehrt“

Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann spricht im Interview mit der Rheinischen Post u.a. über das Grundgesetz und die Resilienz des Rechtsstaats.

Datum 23. Mai 2024

Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann spricht im Interview mit der Rheinischen Post u.a. über das Grundgesetz und die Resilienz des Rechtsstaats.

Das Interview wurde vor der Veröffentlichung auf dieser Seite redaktionell gekürzt.

Rheinische Post: Herr Buschmann, das Grundgesetz wird 75 Jahre alt. Sie sind oberster Verfassungsminister. Welcher Artikel im Grundgesetz ist Ihr liebster?

Dr. Marco Buschmann: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. In diesem Satz spiegelt sich die Grundphilosophie unserer Verfassung wider: Der Staat ist für die Menschen da und nicht umgekehrt. Der Satz stellt das Individuum in den Mittelpunkt, was eine Abkehr von allen kollektivistischen Theorien bis hin zur Rassenlehre der Nationalsozialisten bedeutet. Und der Satz drückt aus, dass der Staat – selbst wenn er gute Argumente auf seiner Seite hat - ab einem bestimmten Punkt sagen muss: hier endet meine Macht. Denn die Würde eines Menschen darf ich nicht einmal antasten.

An der Würde anderer wird aber durch Hass und Hetze immer mehr gekratzt. Machen Sie sich Sorgen um die Stabilität der Demokratie und damit des Grundgesetzes?

Wenn man überzeugter Demokrat und Anhänger unserer Verfassung ist, muss man sich von einem methodischen Grundoptimismus leiten lassen: Liberale Demokratie kann gelingen, auch wenn es manchmal schwierig ist. Natürlich darf man nicht naiv oder blind für Probleme sein. Aber der Gesetzgeber und der Staat reagieren ja auf neue Situationen, wenn etwa im Netz Menschen gemobbt werden.

Aber nur bedingt.

In den letzten Jahren gab es in Deutschland und der EU zahlreiche neue Regelungen zum Schutz von Menschen im Netz. Es geht aber um mehr als neue Gesetze: Wir alle müssen als Bürgerinnen und Bürger einen Beitrag leisten, indem wir beispielsweise nicht resignieren und nicht verächtlich reden über die Institutionen. Es muss einem nicht alles gefallen, was in unserem Land geschieht. Kritik an der Politik gehört zur Demokratie. Aber unsere Verfassung als Rahmen der Politik hat für den freiheitlichsten und wohlhabendsten Staat gesorgt, den wir je hatten. Wenn jeder diesen Rahmen stärkt und verteidigt, dann wird das Grundgesetz mindestens weitere 75 Jahre seiner Erfolgsgeschichte fortsetzen.

Wo braucht es denn Veränderung, vielleicht sogar mehr Schutz des Grundgesetzes?

Das Grundgesetz ist keine Heilige Schrift, die man per se nicht anrühren darf. Wir haben es fast siebzig Mal im Laufe der 75 Jahre geändert oder angepasst. Derzeit führen wir eine Debatte über eine Stärkung des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz. Denn in vielen Ländern gehen Populisten und Autoritäre gegen die Verfassungsgerichte vor, wenn sie es können. Das haben wir etwa in Polen oder Ungarn gesehen. Wir überlegen derzeit, welche Regelungen über das Bundesverfassungsgericht nicht wie bislang in einem einfachen Gesetz, sondern in der Verfassung verankert werden sollten. Dann bräuchte es Zweidrittelmehrheiten, um später an diesen Strukturprinzipien zu rütteln.

Dazu laufen Gespräche mit der Union. Wie ist der Stand der Dinge?

Die Gespräche verlaufen seriös und vertrauensvoll zwischen Koalition und Union. Meine Hoffnung ist, dass wir im Sommer eine Liste an Vorschlägen dazu vorlegen werden, was nach unserer gemeinsamen Auffassung konkret zu tun ist. Dann könnten wir in ein reguläres Verfahren zur Änderung des Grundgesetzes eintreten. Bis Ende des Jahres wäre dann ein Abschluss möglich. Das ist dann so rechtzeitig, dass wir noch nicht im Wahlkampftrubel sind. Ein Turboverfahren zur Änderung der Verfassung wird es nicht geben. Das wäre unangemessen.

Sollte nach fast 35 Jahren Einheit Artikel 146 gestrichen und das Grundgesetz als endgültige Verfassung für ganz Deutschland anerkannt werden? Ministerpräsident Ramelow fordert dafür sogar eine Volksabstimmung.

Natürlich hat der Name Grundgesetz den historischen Hintergrund, dass es ursprünglich nur als Provisorium gedacht war. Wollte man noch einmal darüber nachdenken, wie man einen Staat nach 75 Jahren Erfolgsgeschichte gestaltet, würde sich die ganz breite Mehrheit genau die Strukturen wieder wünschen, die wir heute haben. Wir sollten mit dem Grundgesetz weiterarbeiten. Es ist faktisch seit der Wiedervereinigung unsere gemeinsame und gelebte Verfassung. Die Debatte über den Artikel 146 finde ich daher ein wenig theoretisch.

Braucht es aus Ihrer Sicht mehr öffentliche Bekenntnisse zum Grundgesetz, wie man es beispielsweise aus den USA kennt?

Uns täte ein Schuss mehr Verfassungspatriotismus gut. Menschen haben einen kalkulierenden Verstand, aber auch einen Bauch und ein Herz. Das Wort Gemeinschaftsgefühl bringt es auf den Punkt, was uns manchmal fehlt. Wir sollten ein stärkeres, positives Gefühl gegenüber dem demokratischen Staat und seinen Institutionen aufbauen. Deswegen feiern wir ja am 23. Mai und den nachfolgenden Tagen ein großes Demokratiefest.

Sollte der 23. Mai als Verfassungsgeburtstag zum nationalen Feiertag erklärt werden?

Zwar finde den Vorschlag grundsätzlich sympathisch. Aber mehr Feiertage passen wirtschaftlich nicht in die Zeit. Man müsste dann also auch die Frage beantworten, welchen anderen Feiertag man dafür abschaffen wollte.

Was antworten Sie Menschen, die sich in Abgrenzung zu unserer freiheitlichen Demokratie und mit Blick auf China, Russland oder andere autokratische Staaten mehr autoritäre Führung bei uns wünschen?

Wir erleben einen großen Wettbewerb der politischen Systeme zwischen liberaler Demokratie und Autoritarismus. Unsere Demokratie steht unter Druck und wird auch von Menschen in Deutschland infrage gestellt. Denen empfehle ich einen Blick in die Welt: In keinem autoritären Staat würden sie besser leben können. Der Lebensstandard der Menschen in Russland ist niedriger als bei uns; wer in China die Regierung kritisiert, riskiert Sanktionen. Der gesunde Menschenverstand kommt zu dem Ergebnis, dass man liberale Demokratie niemals gegen Autoritarismus eintauschen sollte. Autoritäre Regierungen erzwingen ihre Autorität durch Gewalt, in der liberalen Demokratie müssen sich Regierungen ihre Autorität in Verantwortung vor den Menschen täglich neu verdienen.

Hat die dauerstreitende Ampel-Koalition aus Ihrer Sicht noch den Respekt der Menschen verdient?

Öffentlich streiten zu können, ist ein großes Glück. Der Diskurs mit Argumenten ist das Prinzip der Demokratie. Und wir sind als Regierung in unserem gemeinsamen Ringen auch zu vielen guten Entscheidungen gekommen, wie ich finde. Das betrifft die erfolgreiche Bekämpfung der Inflation oder der akuten Energiekrise. Wir sollten über Streit daher nicht wie über eine Krankheit sprechen. Allerdings kann man es mit Streit auch übertreiben.

Was heißt das?

Man kann wohl schon sagen, dass es uns innerhalb der Koalition gut zu Gesicht stünde, mehr mit der Opposition zu streiten als untereinander. Ich hoffe allerdings, dass die Menschen auch verstehen, dass wir als drei Parteien aus sehr unterschiedlichen Lagern mehr Debattenbedarf miteinander haben, als wir es vielleicht in anderen Bündnissen hätten. Der Weg zu Entscheidungen in der Koalition ist daher manchmal etwas steinig.

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