„Das deutsche Bundesverfassungsgericht ist ein Erfolgsmodell“
Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann spricht im Interview mit dem RND u.a. über die Resilienz des Bundesverfassungsgerichts, geschäftliche Sterbehilfe und familienrechtliche Vorhaben wie die Verantwortungsgemeinschaft und eine Modernisierung des Unterhaltsrechts.
Datum 30. März 2024
Man müsse aus Erfahrungen aus anderen Staaten lernen, um für potenzielle Gefahren gut gerüstet zu sein: „Ich arbeite daran, dass es gelingt, in Deutschland die notwendigen Mehrheiten zu organisieren, um die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz stärker zu verankern“, so Dr. Marco Buschmann im Interview mit dem RND.
Das Interview wurde vor der Veröffentlichung auf dieser Seite redaktionell gekürzt.
RND: Herr Buschmann, wo Rechtspopulisten in Demokratien an die Macht gekommen sind, setzen sie häufig bei der Justiz an, um ihre Macht auszuweiten. Wie lässt sich der deutsche Rechtsstaat für ein solches Szenario rüsten?
Dr. Marco Buschmann: Die traurige Erfahrung in Polen, in Ungarn und teilweise auch in Israel ist, dass Verfassungsgerichte schnell politische Angriffsziele sein können. Das deutsche Bundesverfassungsgericht ist ein Erfolgsmodell. Es hat sich als Schutzschild der Grundrechte und tragende Säule unserer liberalen Demokratie erwiesen. Zu seiner Entstehungszeit war diese Rolle noch offen. Ich arbeite daran, dass es gelingt, in Deutschland die notwendigen Mehrheiten zu organisieren, um die Unabhängigkeit des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz stärker zu verankern. Wir müssen aus Erfahrungen aus anderen Staaten lernen, um für potenzielle Gefahren gut gerüstet zu sein.
Sie bräuchten für solche Schutzmechanismen im Grundgesetz eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat. Die CDU hat eine Kooperation zunächst abgelehnt, jetzt will sie doch mitmachen. Parteichef Friedrich Merz hat sie aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Kann der Beschluss nun noch in dieser Wahlperiode gefasst werden?
Ich freue mich sehr darüber, dass die Union an den Verhandlungstisch zurückkehrt. Es geht um unsere gemeinsame gesamtpolitische Verantwortung als seriöse Demokraten. Diese Verantwortung steht über parteipolitischen Auseinandersetzungen. Der Bundesjustizminister wird alles beitragen, was es für eine gute Lösung braucht. Wir führen nun vertrauliche Gespräche. Denen kann und möchte ich nicht vorgreifen. Wir haben einen entsprechenden Gesetzentwurf als Arbeitsdokument vorgelegt, über den wir nun gemeinsam sprechen und beraten werden. Aber das Ziel sollte schon sein, in dieser Legislaturperiode etwas hinzubekommen.
Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregierung mit dem Urteil zur Schuldenbremse einen deutlich härteren Sparkurs auferlegt. Seitdem die Schuldenbremse im Grundgesetz verankert wurde, hat sich die Welt verändert. Da könnte man die Regel anpassen, oder?
Viele, die von einer Anpassung der Schuldenbremse für die Zukunft sprechen, wollen in Wahrheit in die Rechtslage der Vergangenheit zurückkehren. Es war das Bundesverfassungsgericht, das im Jahr 2007 festgestellt hat, dass sich dieses alte Recht vor Geltung der Schuldenbremse nicht bewährt hat. Danach durfte der Staat etwa so viele Schulden aufnehmen, wie er Investitionen tätigt. Das führte zu uferlosen Schuldenaufnahmen. Denn der öffentlich-rechtliche Investitionsbegriff ist im Vergleich zum bilanziellen Investitionsbegriff der Kaufleute konturlos. Darunter kann man fast alles fassen. Es wäre in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation geradezu widersinnig, zu dieser verworfenen Praxis zurückzukehren. Wir brauchen mehr Haushalts-Disziplin statt neue Wege für mehr Schulden. Die Schuldenbremse hat sich als effektives Instrument bewährt und deshalb sollten wir sie beibehalten. Sie hat auch positive Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum, weil eine solide Finanzpolitik die Glaubwürdigkeit auf den Kapitalmärkten erhöht und die Angst vor künftigen Steuererhöhungen senkt.
Unter anderem aus der SPD wird gefordert, die Schuldenbremse zu modifizieren, um Investitionen zu ermöglichen.
Die Investitionen im Haushalt liegen auf Rekordniveau. Das Problem sind nicht die Investitionsmittel. Das Problem ist, dass sie viel zu langsam abfließen, weil Planung und Genehmigung so lange dauern. Da müssen wir ansetzen und mehr Tempo ermöglichen. Im Übrigen kommen neun von zehn Euro, die investiert werden, nicht vom Staat, sondern aus dem Privatsektor. Wer mehr Investitionen möchte, sollte hier die Anreize erhöhen.
Das Bundesverfassungsgerichts hat außerdem das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe für nichtig erklärt. Sollte der Bundestag nach dem ersten Anlauf 2023 in dieser Wahlperiode noch einmal eine gesetzliche Neuregelung versuchen?
Es ist gute Tradition, dass sich die Bundesregierung in solchen komplexen medizinethischen Fragen zurückhält und dem Parlament den Vortritt lässt. Als Abgeordneter finde ich, dass das Bundesverfassungsgericht mit Recht betont hat, ein Mensch müsse das Recht haben, selber über sein Lebensende zu entscheiden. Gleichzeitig muss verhindert werden, dass Menschen diese Entscheidung vorschnell treffen und dass auf sie Druck ausgeübt werden kann, zu einer solchen Lösung zu greifen. Ältere, Kranke oder anders Pflegebedürftige sollten nicht über Sterbehilfe nachdenken, weil sie sich als Zumutung für ihre Mitmenschen empfinden oder diesen Eindruck vermittelt bekommen. Wir brauchen hier eine hinreichend klare gesetzliche Regelung, die Rechtssicherheit für alle Beteiligten bringt.
Noch in dieser Wahlperiode?
Ich fände es gut, wenn es zu einem Ergebnis in dieser Legislaturperiode käme. Aber noch wichtiger ist, dass die Lösung gut ist, denn es geht hier um eines der höchsten Rechtsgüter, nämlich das menschliche Leben.
Schauen wir auf die teilweise Legalisierung von Cannabis. Gewarnt wird vor einer Überforderung von Justiz, Polizei und auch Ordnungsämtern. Können Sie das nachvollziehen?
Die alte Cannabis-Politik ist gescheitert. Sie hat Polizei, Staatsanwaltschaften und Justiz stark belastet, aber den Konsum in Wahrheit doch kaum unterbunden. Konsumenten wurden stattdessen in die Hände von Dealern mit minderwertigen Produkten und harten Drogen getrieben. Es gibt mehr als 100.000 Strafverfahren gegen Cannabis-Konsumenten. Die Umstellung bedeutet einmalig einen höheren Arbeitsaufwand, aber perspektivisch werden Polizei und Justiz entlastet. Sie können dann noch stärker relevanter Kriminalität nachgehen.
Ist es notwendig, den Straferlass rückwirkend in Kraft zu setzen?
Seit den 1970er Jahren gilt der auch gesetzlich verankerte Grundsatz: Wenn eine Tat als legal eingestuft wird, müssen Strafen, die in der Vergangenheit wegen dieser Tat verhängt wurden, nicht mehr vollstreckt werden. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit und der Gleichbehandlung von Menschen.
Und nach wie vielen Joints darf man sich nicht mehr ans Steuer setzen?
Im Straßenverkehr ist es entscheidend, dass die Menschen fahrtüchtig sind. Auch legale Drogen oder Medikamente können die Fahrtüchtigkeit beeinträchtigen. Wie für Alkohol muss es da auch für Cannabis vernünftige Maßstäbe geben. Das Verkehrsministerium lässt gerade von eine Expertenarbeitsgruppe prüfen, was hier eine angemessene Regelung wäre.
Eckpunkte für eine Reform des Unterhaltsrechts haben Sie vergangenen Sommer vorgelegt. Es geht darum, den Anteil der Elternteile an der Kinderbetreuung stärker zu berücksichtigen. Wann kommt das Gesetz?
Diese Reform ist mir sehr wichtig. Das bisherige Unterhaltsrecht mit dem Grundsatz „Einer betreut, eine bezahlt“ ist durch die gesellschaftliche Wirklichkeit überholt. Manche Eltern erbringen Doppelleistungen: Sie zahlen vollen Unterhalt in bar und leisten zusätzlich in einem relevanten Umfang Unterhalt in Form von Betreuung. Diese Doppelbelastung ist eine große Ungerechtigkeit, deshalb ändern wir das nun.
Nur die Familienministerin findet es nicht so gut.
Wir sind im Gespräch mit der Familienministerin. Die Einschätzung, dass sie den Vorschlag pauschal nicht gut findet, teile ich nicht. Die Tatsache, dass hier etwas passieren muss, wird von niemandem ernsthaft in Frage gestellt. Ich bin zuversichtlich, dass wir uns bald einigen werden.
Wie stellen Sie sicher, dass die Elternteile, die den Hauptteil der Betreuung leisten und die häufig knapp bei Kasse sind, nicht durch Unterhaltskürzungen benachteiligt werden?
Zunächst einmal: Echte Alleinerziehende betrifft unser Gesetzentwurf gar nicht. Es geht um Paare, die das sogenannte asymmetrische Wechselmodell praktizieren. Das bedeutet, dass der Partner ein Drittel oder mehr Anteil an der Erziehungsarbeit hat. Und wir stellen sicher, dass das Existenzminimum des Kindes immer gesichert ist. Denn über allem steht immer das Kindeswohl, das nicht gefährdet werden darf.
Sie wollen neben der Ehe Verantwortungsgemeinschaften ermöglichen, in denen gegenseitige Sorge vereinbart werden kann. Kritiker sagen, entsprechende Verträge könne man jetzt schon schließen. Regulieren Sie da zu viel?
Natürlich kann man auch selbst Verträge abschließen oder Vollmachten erteilen. Aber wir wollen es den Menschen leichter machen. Viele scheuen sich davor, sich mit Krankheit und Tod auseinanderzusetzen. Die Verantwortungsgemeinschaft macht solche Entscheidungen durch standardisierte Module leichter und verbindet es mit der positiven Entscheidung, für einen oder mehrere andere Menschen einstehen zu wollen. Zudem ist die Verantwortungsgemeinschaft ja nur eine zusätzliche Option. Wir schaffen eine neue, lebensnahe Regelung, aber nehmen niemandem etwas weg.
Was sagen Sie zur Warnung, auf diese Weise würden Vielehen ermöglicht?
Die Sorge muss niemand teilen. Die Verantwortungsgemeinschaft ist etwas völlig anderes als die Ehe. Die Ehe steht unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes – das wird auch so bleiben. Die Ehe hat unter anderem steuerliche, ausländerrechtliche und aufenthaltsrechtliche Konsequenzen. All das gilt für die Verantwortungsgemeinschaft nicht.
Über soziale Netzwerke wie TikTok werden Propaganda, Hetze und Falschmeldungen verbreitet. Sehen Sie da juristischen Regelungsbedarf?
Wir wollen sicher nicht verbieten, dass in diesen Netzwerken Meinungen geäußert werden – und die können auch abseitig oder unvernünftig scheinen. Die Meinungsfreiheit ist in unserem Land ein hohes Gut. Sie gilt natürlich auch in diesen Netzwerken. Aber es gibt eben Grenzen: Beleidigung, Bedrohung, Aufruf zur Hatz gegen Menschen, die Veröffentlichung sogenannter Feindeslisten, verfassungsfeindliche Propaganda sind auch im Internet Straftaten. Da müssen wir geltendes Recht durchsetzen. Das gelingt durchaus auch: Es ist uns mit rechtsstaatlichem Druck gelungen, dass zum Beispiel der Anbieter Telegram zahlreiche strafbare Inhalte entfernt. Telegram hat Kanäle gelöscht und Gruppen geschlossen, in denen solche Inhalte geteilt wurden. Aber wenn es Lücken in der Rechtslage gibt, sollten die geschlossen werden.
Sehen Sie denn noch Lücken?
Bildmaterial, das durch künstliche Intelligenz hergestellt wurde, sollte meiner Meinung nach als solches kenntlich gemacht werden müssen. Denn Bilder vermitteln das Gefühl von Authentizität. Das kann missbraucht werden. Eine Kennzeichnung steht kreativer Arbeit nicht im Weg. Aber es würde einfacher, zu erkennen, ob es sich bei einem Bild eher um ein Kunstwerk oder um eine Abbildung der Wirklichkeit handelt.