„Wenn ein Ergebnis schlecht ist, muss man auch Nein sagen dürfen.“
Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann spricht im Interview mit dem Spiegel u.a. über das EU-Lieferkettengesetz.
Datum 22. Februar 2024
Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann spricht im Interview mit dem Spiegel u.a. über das EU-Lieferkettengesetz.
Das Interview wurde vor der Veröffentlichung auf dieser Seite redaktionell gekürzt.
SPIEGEL: Herr Buschmann, in Brüssel gibt es derzeit massiven Ärger, weil die FDP immer wieder EU-Projekte stoppt. Warum fällt Ihre Partei in der EU vor allem als Bedenkenträger auf?
Dr. Marco Buschmann: Meine Partei und ich sind glühende Fans der Europäischen Union. Deshalb wollen wir Akzeptanz für europäische Politik. Um die herzustellen, müssen wir in Europa um die besten Lösungen ringen. Nur weil eine Idee lange auf EU-Ebene verhandelt wurde, ist sie nicht automatisch gut.
In letzter Zeit hat sich Ihre Partei gegen das Verbrenner-Aus positioniert, gegen das Lieferkettengesetz, gegen eine Richtlinie, die Arbeit bei Online-Plattformen wie Uber oder Lieferando regulieren soll. Jeweils musste sich die Bundesregierung in der Folge enthalten, was praktisch wie ein Nein wirkt.
Verhandlungen sind kein Selbstzweck. Sie sollen zu einer guten Lösung führen. Wenn ein Ergebnis schlecht ist, muss man auch Nein sagen dürfen. Wir dürfen uns keinen demokratischen Maulkorb verpassen. Es ist ja auch kein Bürger gezwungen, ein Gesetz der Bundesregierung nur deshalb gut zu finden, weil wir lange daran gearbeitet haben. Unsere proeuropäische Begeisterung und das Bekenntnis zu einer starken EU darf uns gerade nicht dazu bringen, einer sachlichen Debatte aus dem Weg zu gehen. Sowas würde den Rechtspopulisten und Europaskeptikern mehr Zulauf bringen als eine Debattenkultur, in der wir uns mit sachlichen Argumenten um gute Lösungen bemühen.
Schadet es dem Rückhalt für die EU nicht auch, wenn dort jahrelang über eine Richtlinie verhandelt wird, die dann im letzten Moment zu scheitern droht?
Nein, ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Die Menschen wünschen sich eine nachvollziehbare, offene Debatte dann, wenn Europäisches Recht entsteht - und nicht erst, wenn es schon längst verabschiedet ist. Denn dann kann man ja nichts mehr ändern und jede Debatte führt dann nur zu Frust. Letzteres wäre Wasser auf die Mühlen derjenigen, die behaupten, in der EU könne man ohnehin keinen Einfluss nehmen. Genau dem sollten wir entgegenwirken, indem wir öfter über EU-Vorhaben rechtzeitig transparent debattieren und auch mal argumentativ streiten. Ich denke, das wird das Vertrauen stärken.
Besonders groß war der Ärger in Brüssel zuletzt über das FDP-Nein zum Lieferkettengesetz. Die Europäische Kommission, der Rat der Europäischen Union und das EU-Parlament hatten sich nach einem langen Verfahren auf ein Lieferkettengesetz verständigt, mit dem etwa Kinderarbeit und Umweltzerstörung in Lieferketten von Unternehmen verhindert werden sollten. Die FDP hat die Bundesregierung dazu gebracht, dem nicht zuzustimmen. Warum?
Nach meinen Informationen war im Europäischen Parlament in Wahrheit niemand überrascht. Denn dort hat unsere Argumente lange ignoriert. Fakt ist: Es gab eine Einigung im Trilog der EU-Institutionen – also der kleinen Gruppe von Verhandlungsführern für Rat, Kommission und Parlament. Der tagt informell und ist gar nicht Teil des offiziellen Gesetzgebungsverfahren. Die Bundesregierung selbst nimmt nicht am Trilog teil, wir haben dem dort Verhandelten also auch nicht zugestimmt.
Entschuldigung, in Brüssel sitzen Vertreter der Bundesregierung und auch Ihres Ministeriums. Der Rat ist im ständigen Austausch mit den Regierungen. Stellen Sie das Trilogverfahren infrage? Das ist ein von allen in der EU akzeptierter Prozess.
Natürlich braucht es solche informellen Gespräche. Sie sind wertvoll. Die dort entwickelten Vorschläge werden dann Parlament und Rat zur Billigung vorgelegt. Nur weil etwas im Trilog verhandelt wurde, ist es also nicht automatisch verabschiedet.
Nein, aber nach einer Einigung im Trilog ist die Zustimmung des Rates normalerweise Formsache.
Nein, es ist eben keine Formsache, es gibt keinen Automatismus. Beide Gesetzgeber – das Europäische Parlament und der Rat – müssen beurteilen, ob das im informellen Trilog gefundene Verhandlungsergebnis akzeptabel ist. Die deutsche Bundesregierung hatte sich zur Lieferkettenrichtlinie gemeinsame Ziele gesteckt und rote Linien gezogen – etwa durch unsere kritische Protokollerklärung vom November 2022. Ich habe frühzeitig immer wieder gewarnt, dass sich das Vorhaben auf einem kritischen Weg befindet. Wir haben lange verhandelt, aber ich habe immer betont: Am Ende muss das Gesamtergebnis gewürdigt werden. Das haben wir getan – und sind davon nicht überzeugt. Damit sind wir nicht allein. Viele andere Staaten halten das Trilog-Ergebnis auch für problematisch. Dafür gibt es eben viele sachliche Gründe.
Sie führen etwa das Argument an, dass das EU-Lieferkettengesetz eine unverhältnismäßige Belastung für mittelständische Unternehmen bedeuten würde. Laut EU-Definition haben kleine- und mittelständische Unternehmen bis zu 250 Mitarbeiter. Die EU-Richtlinie setzt dagegen bei Unternehmen ab 500 Mitarbeitern und 150 Millionen Euro Umsatz an. Das verstehen Sie unter Mittelstand?
Alle Spitzenvertreter und alle Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft, vom Handwerk bis zur Industrie, lehnen die vorgeschlagene Richtlinie ab. Mittelbar ist der gesamte Mittelstand betroffen. Und Sie nennen zudem nur einen Punkt meiner Kritik. Wir befinden uns in einer schwierigen internationalen Situation. Um von alten Abhängigkeiten loszukommen, müssen wir unsere Lieferketten diversifizieren, nicht verengen. Mit den Vorschlägen zu der zivilrechtlichen Haftung und den vagen formulierten Regeln, die in dem Vorschlag vorgesehen waren, würden wir zudem viel rechtliche Unsicherheit schaffen. Wir alle wollen Kinderarbeit und Umweltverschmutzung bekämpfen, das ist keine Frage. Aber nicht alles, was gut gemeint ist, ist auch gut gemacht. Aus dem gut gemeinten Zweck muss auch eine gut gemachte Regelung folgen. Das ist ansonsten unverantwortlich. Unternehmen sollten nicht mit weiterer Bürokratie belastet werden, für eine Regelung, die wenig erreicht.
Die in der Richtlinie vorgesehene Haftung soll dafür sorgen, dass Betroffene von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen vor europäischen Gerichten auf Schadensersatz klagen können. Warum finden Sie das falsch?
Wenn Unternehmen Menschen schuldhaft Schaden zufügen, gibt es dafür heute bereits Haftungsregelungen. Die EU-Lieferkettenregelung geht aber darüber weit hinaus. Im Prinzip sollen sich Unternehmen darum bemühen, menschenrechtliche oder auch umweltrechtliche Abkommen im Rahmen ihrer Lieferbeziehungen zu verwirklichen. Zudem ist unklar, welche Bemühungen ausreichen, damit Betriebe nicht in ein Haftungsrisiko geraten. Sie sollen zudem von einer großen Zahl von Organisationen verklagt werden können. Wenn wir mit so einem scharfen Schwert wie der zivilrechtlichen Haftung arbeiten, muss schon aus rechtsstaatlichen Gründen für Unternehmen erkennbar sein, wo die rote Linie zwischen Recht und Unrecht gezogen ist. Sonst besteht untragbare Rechtsunsicherheit. Das kann mitunter dazu führen, dass Betriebe sich aus manchen Märkten ganz zurückziehen und etwa chinesische Unternehmen mit deutlich weniger Rücksicht auf Menschenrechte und Ökologie dann in diese Lücke stoßen. Damit wäre niemandem gedient.
Deutschland hat bereits ein Lieferkettengesetz, viele andere EU-Länder noch nicht. Ist das nicht ein Wettbewerbsnachteil, der sich durch eine EU-weite Regelung ausgleichen ließe?
Sie sprechen von einheitlichen Regeln. Die sind grundsätzlich ein Vorteil. Daher werbe ich auch für eine schlanke und rechtssichere Lösung Wenn aber eine schlecht gemachte Lösung zu enormer Rechtsunsicherheit führt, überwiegt dieser Nachteil den Vorteil aus den einheitlichen Regeln. So sieht es in diesem Fall auch die übergroße Mehrheit der Unternehmen in Deutschland. Politiker sollten sich nicht anmaßen, den Nutzen für Unternehmen besser bewerten zu können als sie selbst.
Was müsste beim Lieferkettengesetz geändert werden, damit die FDP doch noch zustimmt?
Nach der Wahl des EU-Parlaments im Juni braucht es einen frischen Start für das Lieferkettengesetz. Ein neuer Anlauf sollte wirksam, aber bürokratieärmer und rechtlich klarer sein. Eine solche Regelung sollte meiner Meinung nach am besten ganz auf die zivilrechtliche Haftung verzichten.
Sie haben im Alleingang einen Brief an die anderen Mitgliedstaaten geschrieben, in dem Sie gegen das Lieferkettengesetz argumentierten. Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass die FDP mit solchen Manövern die gesamte EU-Politik blockiert?
Ich wundere mich über diese Frage. Arbeitsminister Hubertus Heil hat das deutsche Abstimmungsverhalten öffentlich verkündet und mir und meiner Partei im gleichen Atemzug Ideologie vorgeworfen. Ich habe daher lediglich meine sachlichen Argumente in einem Brief an meine Amtskollegen dargelegt. Denn es kann ja nicht sein, dass der Vorwurf einfach im Raum stehen bleibt, dass der größte EU-Mitgliedsstaat von Ideologie getrieben sei. Dass man mir das zum Vorwurf macht, finde ich seltsam. Genau um den sachlichen Austausch von Argumenten sollte es in der Politik doch gehen. Und im Gegensatz zu anderen habe ich mich dabei jeglicher Polemik enthalten.
Aber warum finden die öffentlichen Debatten in der Ampel erst statt, wenn das Vorhaben eigentlich schon vor dem Abschluss steht?
Das ist eine interessante Frage. Aber erstens sind unsere Argumente seit 2022 bekannt, waren in der Bundesregierung abgestimmt, sind aber immer wieder von Kommission und Parlament ignoriert worden. Zweitens sollte es immer erlaubt sein, über Gesetze in der Europäischen Union zu debattieren, auch wenn der Prozess schon fortgeschritten ist. Wir tun der EU keinen Gefallen, wenn wir meinen, ab einem bestimmten Punkt müsse ein Schweigegelübde gelten. Demokratie lebt von Debatte.
Ein Thema, das zuletzt ebenfalls Kontroversen hervorrief, war eine EU-Richtlinie zu Gewalt gegen Frauen. Die Bundesregierung sprach sich gemeinsam mit anderen Mitgliedsstaaten dagegen aus, den Tatbestand der Vergewaltigung EU-weit anzugleichen. Warum?
Die deutsche Bundesregierung hat diese Richtlinie vorangetrieben und ich halte sie für einen großen Erfolg. Wir sorgen etwa dafür, dass weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsheirat oder Cybermobbing europaweit einheitlich bekämpft werden. Diese Phänomene finden regelmäßig in grenzüberschreitenden Netzwerken statt. Daher gab es hier auch eine klare Kompetenz der Europäischen Union. Es stellte sich aber die rechtliche Frage, ob die Europäische Union auch die Kompetenz besitzt, den Vergewaltigungstatbestand zu harmonisieren. Die Fachleute meines Hauses, große Teile der Wissenschaft, die gesamte Bundesregierung, der juristische Dienst des Europäischen Rates und eine Mehrheit der Mitgliedstaaten waren sich jedoch einig, dass die EU hierfür gerade keine Rechtssetzungskompetenz hat.
Parlament und Kommission argumentierten, dass eine Angleichung des Strafrechts zu Vergewaltigungen durchaus möglich wäre. Warum kamen Sie zu einem anderen Ergebnis?
Die EU darf nur dort gesetzgeberisch tätig werden, wo es ihr die Europäischen Verträge ausdrücklich erlauben. Eine entsprechende Kompetenznorm kennen die Europäischen Verträge für den Vergewaltigungstatbestand nicht. Das leuchtet auch ein. Denn die Europäischen Union ist zuständig, weil den einzelnen Mitgliedsstaat wegen grenzüberschreitender Zusammenhänge überfordern könnte. Die Vergewaltigung ist ein abscheuliches Verbrechen, aber sie besitzt typischerweise keinen grenzüberschreitenden Charakter. Mit dieser Meinung stehen wir in Europa auch nicht allein. Der Juristische Dienst des Rates hat das in einem ausführlichen Gutachten ungewöhnlich deutlich zum Ausdruck gebracht. Dem hat sich die Mehrheit der Mitgliedstaaten angeschlossen. Zudem ist aus deutscher Sicht zu beachten, dass uns das Bundesverfassungsgericht in seinem berühmten Lissabon-Urteil ganz klar vorgegeben hat, dass die strafrechtlichen Kompetenznormen der EU eng auszulegen sind. Ansonsten drohe eine Verletzung der Verfassungsidentität des Grundgesetzes. Darüber kann ich mich als deutscher Justizminister nicht hinwegsetzen. Lassen Sie mich aber eines noch einmal ganz ausdrücklich klarstellen: Eine Vergewaltigung ist ein abscheuliches Verbrechen. Wo immer es dazu kommt, müssen wir dagegen mit aller Schärfe vorgehen, die Täter verfolgen und hart bestrafen. Daran ändert sich durch die Debatten um die Richtlinie überhaupt nichts. In Deutschland haben wir gegen Vergewaltigung zu Recht harte Gesetze, die im Übrigen auch über das Strafrecht in vielen anderen Mitgliedsstaaten hinausgehen.
Abseits der juristischen Debatte: Finden Sie eine EU-weite Vereinheitlichung in diesem Bereich denn wünschenswert?
Ich habe großen Respekt davor, wenn Organisationen und Aktivisten sich auf dem Gebiet des Sexualstrafrechts engagieren. Aber wenn sie möchten, dass in Italien oder in Frankreich ein anderes Strafrecht gilt, ist der Adressat der französische oder der italienische Gesetzgeber. Im Übrigen gibt es mit der Istanbul Konvention bereits eine einheitliche, auf dem Konsensprinzip basierende Ausgestaltung des Vergewaltigungstatbestandes. Diese Konvention wurde von allen EU-Mitgliedstaten unterzeichnet. Deutschland hat die Istanbul Konvention vollständig umgesetzt. Wir haben ein sehr strenges Sexualstrafrecht.